Kafkas Welt ist ein Welttheater. Ihm steht der Mensch von Haus aus auf der Bühne. Walter Benjamin
Mit gerade einmal sechzehn Jahren wird der aus Prag stammende Karl Roßmann von seinen Eltern nach Amerika geschickt. Er flieht vor den Folgen einer Liebesaffäre, die Karls Familie um ihren guten Ruf fürchten lässt. Amerika, das ist für den jungen Karl das Land des Fortschritts, der Gerechtigkeit und der Vorurteilslosigkeit, in dem Erfolg nicht auf Herkunft basiert, sondern auf Tüchtigkeit und Fleiß. Doch bereits auf der Überfahrt erlebt der junge Auswanderer die erste Enttäuschung, denn auch auf dem Schiff geht, wie in der alten Welt, Hierarchie über Gerechtigkeit. Diese Grunderfahrung von Ungerechtigkeit wird Karl auf den verschiedenen Stationen seiner Reise verfolgen. Lediglich am Ende des Romans, der ursprünglich den Titel Der Verschollene tragen sollte, lässt Kafka die Möglichkeit einer anderen, humaneren Welt in Gestalt des Naturtheaters von Oklahoma aufscheinen.
Über Jahrhunderte hinweg flohen Menschen aufgrund wirtschaftlichen Elends oder politischer Repression in Die neue Welt. Mehr als 7 Millionen Menschen wanderten zwischen 1830 und 1974 allein über Bremerhaven per Schiff nach Übersee aus. Anhand des Kafka-Romans in der Bearbeitung von Christoph Klimke setzt sich Johann Kresnik exemplarisch mit dem Schicksal eines Migranten auseinander und wirft einen kritischen Blick auf den Widerspruch von Mythos und Realität des Landes, das über Jahrhunderte hinweg bis heute Inbegriff der Hoffnung auf ein besseres Leben war. Der Tänzer, Regisseur und Choreograph Johann Kresnik war von 1968 bis 1978 und von 1989 bis 1994 Leiter des Bremer Tanztheaters. Nach Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit im U-Boot-Bunker Valentin und den Zehn Geboten in der Friedenskirche ist damit erneut eine Inszenierung von Johann Kresnik in einer außergewöhnlichen Bremer Spielstätte zu sehen.